PICS Intensivstation Titelbild


PICS Intensivstation: Darum ist Prävention und Frühmobilisation so wichtig

Experteninterview über das Post Intensiv Care Syndrom

Lange galt das Überleben eines Patienten als Hauptziel und wichtigstes Qualitätsmerkmal intensivmedizinischer Therapie. Doch es wird immer deutlicher, dass viele Überlebende der Intensivbehandlung nicht nahtlos an ihr vorheriges Leben anknüpfen können. Sie leiden sowohl infolge ihrer Erkrankung als auch aufgrund des Aufenthalts auf der Intensivstation unter teils erheblichen Kurz- und Langzeitfolgen. Aufgrund dieser Tatsache wurde sogar eigens eine eigene Bezeichnung eingeführt: Das Post Intensiv Care Syndrom, kurz PICS. Für die behandelnden Fachärzt:innen ist es essenziell, sich mit diesem Syndrom auseinanderzusetzen, um präventive Maßnahmen einzuleiten und damit die Lebensqualität der Betroffenen langfristig zu steigern.

In diesem Artikel haben wir die Gelegenheit, mit einer absoluten Expertin auf diesem Gebiet, unserer langjährigen Referentin Frau Dr. Karin Steinecke, zu sprechen. Sie teilt ihre wertvollen Erkenntnisse und Erfahrungen zu PICS Medizin und PICS Intensivstation, um gerade den Kolleg:innen, die vor der Facharztprüfung oder der Zulassungsprüfung Intensivmedizin stehen, einen Einblick zu geben.

In diesem Beitrag lesen Sie:

1. Post Intensive Care Syndrom (PICS): Eine häufige und alltagsrelevante Komplikation
2. Häufigkeit, Diagnose und öffentliche Wahrnehmung von PICS
3. Prävention und Therapie
4. Bewusstsein schaffen und Nachholbedarf erkennen
5. PICS und Long-COVID: Ein Zusammenhang?
6. Weiterführende Informationen rund um PICS Intensivstation

Wer ist Dr. Karin Steinecke?

Seit 6,5 Jahren ist Frau Dr. Steinecke an der renommierten Charité in Berlin tätig und arbeitet dort aktuell als Oberärztin in der Klinik für Anästhesiologie mit dem Schwerpunkt operative Intensivmedizin. Zusätzlich leitet sie internationale telemedizinische-intensivmedizinische Projekte und die Ambulanz für post-intensivstationäre Patient:innen.

Mit über einem Jahrzehnt Erfahrung in der Intensivmedizin bietet sie bei MD HORIZONTE als sehr beliebte Referentin einen Überblick über Themen wie Analgosedierung, Delirprävention und -therapie und natürlich über das Post Intensive Care Syndrom (PICS).

PICS Intensivmedizin Referentin Dr. Karin Steinecke

Dr. Karin Steinecke

Was hat sich in Ihrer täglichen Arbeit mit Patient:innen auf der Intensivstation in den letzten Jahren verändert, das die Themen Prävention und Rehabilitation so wichtig macht?

Frau Dr. Steinecke: Die größte und grundsätzlich natürlich sehr erfreuliche Veränderung ist, dass immer mehr Menschen eine intensivmedizinische Behandlung überleben. Allerdings überleben viele mit Defiziten. Um diesen Defiziten entgegenzuwirken, müssen wir einerseits unsere Behandlungsansätze anpassen und andererseits natürlich auch die Maßnahmen nach der Behandlung.

Ein weiterer, allgemein bekannter Aspekt ist der Personalmangel in Kliniken. Dieser macht es schwierig, sich intensiv mit den Patient:innen zu beschäftigen – das betrifft vor allem Maßnahmen wie die Frühmobilisation und Rehabilitation, die idealerweise bereits auf der Station beginnen sollten.

Post Intensive Care Syndrom (PICS): Eine häufige und alltagsrelevante Komplikation

Das Post Intensive Care Syndrom stellt eine weitverbreitete und im Alltag für die Betroffenen hoch relevante Folge einer intensivmedizinischen Behandlung dar. Es beeinflusst sowohl die psychische als auch physische Gesundheit und gliedert sich gemäß einer Definition aus 2012 in drei Hauptdomänen: mentale Gesundheit, Kognition und Mobilität.

Welche Symptome von PICS treten am häufigsten auf? Und welche der Nachwirkungen eines Intensivaufenthaltes empfinden Patient:innen am belastendsten?

Frau Dr. Steinecke: In der Regel ist es eine Kombination aus zwei oder drei Domänen. Es gibt kaum Patient:innen, die nur an einer leiden. Man kann hier nicht wirklich priorisieren, aber viele Patient:innen berichten von den enormen Herausforderungen, die kognitive Störungen in ihrem Alltag darstellen, beispielsweise Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten, die lange, teilweise lebenslang andauern können.

PICS Intensivstation: Häufigkeit, Diagnose und öffentliche Wahrnehmung

Wie oft erleben Sie die Diagnose PICS in Ihrer täglichen Arbeit? Wie viele ehemalige Intensivpatient:innen sind von diesen Langzeitfolgen betroffen?

Frau Dr. Steinecke: Da ich die Ambulanz für post-intensivstationäre Patient:innen leite, sehe ich häufig PICS-Fälle. Laut einer Studie aus 2018 zeigen 25 % der Patient:innen drei Monate und 20 % 12 Monate nach einer intensivmedizinischen Behandlung Beeinträchtigungen in mindestens zwei PICS-Domänen.

Hier kann man das genauer nachlesen.

PICS ist nicht selten, aber wird – leider immer noch – selten beachtet. Sowohl Intensiv-mediziner:innen als auch Hausärzt:innen können es gar nicht richtig einordnen und haben daher keine Chance adäquat darauf zu reagieren.

Welche Ziele verfolgen Sie als stellvertretende Sektionssprecherin der PICS-Sektion bei der DIVI?

Frau Dr. Steinecke: Die PICS-Sektion der Divi wurde letztes Jahr im Dezember ins Leben gerufen und wir sind sehr froh, dass wir engagierte Mitglieder sowohl aus Deutschland, aber auch überregional – z. B. aus der Schweiz – gewinnen konnten.

PICS wird sowohl in der Öffentlichkeit, aber auch im medizinischen Bereich noch viel zu wenig wahrgenommen. PICS braucht aber die öffentliche Wahrnehmung, damit wir das Risiko einer Entstehung so gering wie möglich halten können. Die Sektion ermöglicht es uns, ein breiteres Publikum zu erreichen. Dabei sind Expert:innen an Bord, die Publikationen verfassen, Leitlinien erstellen und Empfehlungen aussprechen können.

PICS Intensivstation: Prävention und Therapie von PICS

Wie wichtig ist die Prävention und welche therapeutischen Ansätze gibt es, um PICS entgegenzuwirken bzw. die Patient:innen zu unterstützen?

Frau Dr. Steinecke: Mittlerweile hat man über 60 Risikofaktoren für PICS identifiziert.

Zu den Hauptrisikofaktoren gehören u. a.:

  • Die Entwicklung eines Delirs während des Aufenthalts auf der Intensivstation
  • Langzeitbeatmung
  • Analgosedierung
  • eingeschränkte Mobilisation
  • die mangelnde Einbindung der Angehörigen in die Therapie und insgesamt in die Kommunikation.

Wesentliche präventive Maßnahmen umfassen also eine Frühmobilisation in Form von enger Zusammenarbeit mit den anderen Fachbereichen wie z. B. Physio- und Ergotherapeut:innen; außerdem eben die Delirprävention, Vermeidung von Langzeitsedierung, die regelmäßige Überprüfung der Ziele bei einer Langzeitbeatmung und ggf. eine entsprechende Anpassung und wenn möglich auch Weaning.

Wir können das Risiko minimieren, aber PICS natürlich nicht verhindern. Es gibt auch Faktoren, auf die wir keinen Einfluss haben wie weibliches Geschlecht, Alter und Vorerkrankungen.


Welche Fachbereiche sind in den Prozess eingebunden?

Frau Dr. Steinecke: Eine umfassende Behandlung von PICS erfordert ein interdisziplinäres Netzwerk: Hausärzte, Physiotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten, HNO-Ärzte (wenn es um ehemals tracheotomierte Patient:innen geht) und vor allem auch Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater.

Immer mehr rückt auch die Kommunikation mit den Rehabilitationsmedizinern in den Vordergrund, um mehr über den Gesundheitszustand nach der intensivmedizinischen Behandlung und während der Rehabilitation zu erfahren und inwieweit es bereits hier Anzeichen für die Ausbildung eines PICS gab.


PICS Intensivmedizin Rehabilitationsnetzwerk

Quelle: Präsentation PICS_REHA Dr. Karin Steinecke (Repetitorium Intensivmedizin, MD HORIZONTE)

PICS Intensivstation: Bewusstsein schaffen und Nachholbedarf erkennen

Sie hatten es vorhin bereits angesprochen: Das Wissen um PICS hat sich in der Ärzteschaft noch nicht durchgesetzt. Wo sehen Sie hier noch Nachholbedarf?

Frau Dr. Steiencke: In der Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit, insgesamt in der Information – einschließlich Surveys und Patientenaufklärung auch über die Krankenkassen. Viele der PICS-Intensivstation-Patient:innen halten ihre Defizite nach einer intensivmedizinischen Behandlung für normal, schließlich waren sie ja lange krank. Hier muss das Bewusstsein dafür gestärkt werden, dass auch andere daran leiden und dass es therapierbar ist.

Welche Ratschläge haben Sie speziell zum Umgang mit PICS für angehende Facharztkolleg:innen? Haben Sie konkrete Tipps, wie dieses Thema im eigenen beruflichen Umfeld eingeführt bzw. umgesetzt werden kann?

Frau Dr. Steinecke:

  1. Die präventiven Maßnahmen während der Behandlung beachten.
  2. Eine leichte Sedierung bevorzugen und diese so schnell wie möglich reduzieren.
  3. Delirpräventive Maßnahmen durchführen.
  4. Angehörige zulassen.
  5. Den Patienten reorientieren lassen, das heißt Ruhe, Licht und keine Maßnahmen nachts.

Ist damit zu rechnen, dass die Zahl der betroffenen Intensivpatienten mit PICS in Zukunft zunimmt?

Frau Dr. Steinecke: Die Mortalität sinkt, da unsere Behandlungen stetig besser werden. Das Risiko, dass wir Patient:innen mit Defiziten "produzieren", steigt gleichzeitig allerdings an.

PICS und Post-COVID: Ein Zusammenhang?

Haben Sie einen Anstieg von PICS-Fällen in Verbindung mit Long-COVID nach der Pandemie bemerkt?

Frau Dr. Steiencke: Es gibt eine S1-Leitlinie Long/Post-Covid in der PICS als Untergruppe genannt wird. Der Fokus auf Post-Covid wird meiner Meinung nach in den kommenden Jahren nachlassen, da Covid nicht mehr die gleiche Krankheitsschwere aufweist. Es ist jedoch naheliegend, dass ein Patient mit Post-Covid auch PICS haben kann, wenn er lange Zeit auf der Intensivstation verbrachte. Daher wurde PICS als eine Untergruppe des Post-Covid in die Leitlinie aufgenommen.


Eine Schlüsselkomponente bei PICS ist die Rehabilitation. Wie wichtig ist es, damit frühzeitig zu beginnen? Und erfolgt diese Maßnahme immer stationär?

Frau Dr. Steinecke: Schlüsselkomponente Nr. 1 ist zuerst die Prävention, also alles, was ich während der Behandlung auf der Intensivstation beeinflussen kann. Die Rehabilitation muss dann greifen, wenn man vorbeugend alles getan hat und der Patient trotzdem Defizite aufweist. Reha muss so früh wie möglich beginnen, bereits auf der Intensivstation, und dann überlappend stattfinden mit den Nachsorge-Einrichtungen bis hin zu einer Ambulanz zur Nachsorge.

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Wissenschaftliche Leitung:

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Wichtig in allen Fachbereichen: Der Austausch mit Kolleg:innen

Den mehrstufigen Prozess der PICS-Diagnostik, die Schlüsselkomponenten der Behandlung sowie die verschiedenen Phasen der Rehabilitation erklären Sie sehr ausführlich in unserem Onlinekurs und vor Ort auf Sylt in unserem Repetitorium Intensivmedizin.

Wir hätten gerne mehr so wunderbare Referentinnen wie Sie in unserem Team!

Was motiviert Sie als Referentin zu arbeiten?

Frau Dr. Steinecke: Es ist wirklich wichtig, mit Fachkolleg:innen ins Gespräch zu kommen. Als Referent:in ist man immer in der Verantwortung, sich ständig mit der aktuellen Literatur auseinanderzusetzen und auf dem neuesten Stand zu bleiben. Aber der zentrale Aspekt ist tatsächlich der Austausch. Es spielt keine Rolle, ob ein Referent von einer Universitätsklinik oder einem kleineren Krankenhaus kommt: Nicht immer ist der eigene Weg der richtige. Und dieser Austausch, besonders mit angehenden Facharztkolleg:innen oder jenen auf dem Weg zur Zusatzbezeichnung Intensivmedizin, ist äußerst wertvoll.

Es ist auch ratsam, sich immer mal wieder zu überwinden, vor größeren Gruppen von Menschen zu sprechen. Diese Fähigkeit ist in vielen anderen Situationen – ob in Prüfungs- oder Trainingssituationen – hilfreich. Als Referent:in ist das eine großartige Gelegenheit, sich in einem kollegialen Umfeld mit Gleichgesinnten zu treffen und auszutauschen.

Weiterführende Informationen rund um PICS Intensivstation

Können Sie Fachliteratur oder andere Quellen empfehlen, wenn sich jemand tiefer mit PICS Medizin beschäftigen möchte?

Frau Dr. Steinecke: Ja, es gibt ein Buch der ESICM (European Society of Intensive Care Medicine) über PICS Medizin. Die aktuelle Ausgabe ist von 2020.

Die Online-Literaturrecherche ist hier jedoch oftmals das einfachste, da Bücher nur einen Moment erfassen. Es gibt dieses Jahr viele neue Publikationen im Bereich PICS mit interessanten Grundlagen und Untersuchungen. Unter dem Stichwort PICS gibt es online viel zu finden.

Anne Lindner (Redaktionsteam MD HORIZONTE)

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